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Geschichte Enthüllungen

Der wahre Kennedy-Mörder nennt sich „City of Hate“

Mehr als 100 US-Buchtitel bieten neue Theorien über die Ermordung John F. Kennedys. Vor allem eine brillante Studie über die Stadt Dallas gibt zu denken, präsentiert sie doch einen neuen Täter.

„Wir fahren ins Land der Irren“, scherzte matt der Präsident am Morgen des 22. November 1963, als er mit der First Lady in der Wagenkolonne von Fort Worth nach Dallas aufbrach. Es war schon kein Witz, bevor es tödlicher Ernst wurde. John und Jackie Kennedy richteten sich auf eine Spießrutenfahrt ein. Denn in keiner Stadt Amerikas wurde der Hass auf John F. Kennedy so zelebriert und großzügig finanziert.

In der Lokalzeitung hieß an jenem Tag ein ganzseitiger „Nachruf“ mit Trauerrand den Präsidenten willkommen: Verräter, Papst-Agent und Kommunistenfreund schimpfte man ihn. Der Ölmilliardär H. L. Hunt, von einem Staatsstreich fantasierend, hatte die Anzeige finanziert. Hunts Aktivisten verteilten in den Straßen Fahndungsblätter mit JFK-Foto: „Gesucht wegen Hochverrats“.

Der mächtigste Verleger der Stadt, Ted Dealey, hatte es sich bei einem Empfang im Weißen Haus nicht nehmen lassen, den Gastgeber zu beleidigen: „Wir brauchen einen Mann im Sattel, um diese Nation zu führen“, sagte er Kennedy ins Gesicht. „Und viele Leute in Texas und im Südwesten glauben, Sie fahren Carolines Dreirad.“

In Dallas waren Vizepräsident Lyndon Johnson, Texaner und kein Schwächling, an der Seite seiner Frau Lady Bird in einer Hotelhalle angespien und bedrängt worden. In Dallas war nur wenige Wochen zuvor UN-Botschafter Adlai Stevenson von einem Mob niedergeschrien und mit einem Plakat über den Kopf geschlagen worden. Stevenson hatte Kennedy beschworen, nicht nach Texas zu fliegen.

Fanatischer Hass auf den Präsidenten

Sogar der linksliberale Stanley Marcus, Kaufhaus-Magnat in Dallas und JFK-Verehrer, hatte von einem Besuch abgeraten. Lee Harvey Oswald, Ex-Marine-Infanterist, nach zwei Jahren in der Sowjetunion desillusionierter Kommunist, gescheiterter Attentäter – er verfehlte im April 1963 den ultrarechten Aktivisten Edwin Walker in seinem Haus in Dallas mit einer Gewehrkugel um Zentimeter – reifte in der „City of Hate“ zum berühmtesten Königsmörder nach Brutus. Der 22. November 1963 wäre in einer anderen amerikanischen Stadt nicht so verlaufen. Es war der Tatort, der den Mord komplizenhaft ermöglichte.

Darauf zielt die brillante Beweisführung von Bill Minutaglio und Steve Davis in „Dallas 1963“. Es ist unter den mehr als hundert JFK-Büchern, die Amazon für die beiden Monate als US-Neuerscheinungen verzeichnet, vielleicht das frischste und überraschendste. „Dallas 1963“ bestürzt durch die Zwangsläufigkeit, mit der fanatischer Hass auf den Präsidenten sich im Attentat entlud. Es wird einem bange, wenn man an die Parallelen heute denkt. Die Schurken und Helden von „Dallas 1963“ sind tot, beider Erben sind um so lebendiger.

Diese bestechende Modernität fehlt anderen JFK-Büchern. Dem Verdacht der Legendenfledderei sind alle ausgesetzt. Je origineller der Winkel, mit dem neues Licht auf Kennedy und das Attentat geworfen wird, desto größer die Chance aufzufallen. Leicht ist das nicht: Mehr als 40.000 Bücher soll es nach US-Schätzungen weltweit zum Thema geben.

Peter Savodnik versucht sich in „The Interloper“ an Lee Harvey Oswalds Verliererleben. Vor allem recherchiert er die Jahre des schwärmerischen Marxisten in der Sowjetunion, von 1959 bis 1962. Der Vater starb vor Oswalds Geburt, bis zum 17. Lebensjahr zog der Junge 20 Mal um. Er floh vor der Mutter zu den Marines, „Oswaldskovich“ nannten ihn seine Kameraden.

Wenn JFK weiter regiert hätte

In der Sowjetunion erkannte Genosse Oswald endlich, dass „nicht einmal die kleinste Wahl dem Individuum überlassen wird“. Er wollte ein Held sein und blieb ein Loser, erst recht nach seiner Heimkehr. Im Frühjahr 1963 kaufte er ein Gewehr. Ein Anschlag auf den Rechtsextremisten Generalmajor Edwin Walker schlug fehl. Vor seiner Frau Marina prahlte er, das sei wie Hitler töten. Hätte er getroffen und wäre gefasst worden. Nicht auszudenken.

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Oder doch. Jeff Greenfield, ein kluger TV-Kommentator, denkt in „If Kennedy Lived“ den überlebenden Präsidenten einfach weiter und die zweite Amtszeit spekulativ zuende. Hätte FBI-Direktor J. Edgar Hoover, kein Freund der Gebrüder Kennedy, den Präsidenten mit seinen Liebschaften erpressen können? Hätte der Präsident, wie Greenfield schreibt, nie den Vietnamkrieg ausgeweitet, wie es Lyndon Johnson durch die berüchtigte „Tonkin-Resolution“ tat?

Der Autor sieht seinen eher konservativen Helden in einen Konflikt mit demonstrierenden Studenten und Bürgerrechtlern geraten. Eine Rebellion von Rechts (Hunt, Dealey u. a.) untergräbt seine Autorität in Kabinett und Partei. Ronald Reagan profiliert sich im Aufstand gegen Kennedy.

Greenfield verlangt von seinen Lesern sich vorzustellen, dass es den Vietnamkrieg dank JFK nie gegeben hätte. Keine 50.000 toten GIs und Hunderttausende Napalmopfer, keine heulende Hymne des Gitarrengenies Jimi Hendrix in 1969 Woodstock, kein Vietnamkriegs-Trauma: Nicht nur Amerika wäre ein anderes Land.

Der Hofstaat des Präsidenten

Außer Greenfield halten sich die Autoren, in höchst unterschiedlicher Qualität, an den toten Kennedy. Während Jesse Ventura, Ex-Pro-Wrestler und einst schillernder Gouverneur von Minnesota, mit „They Killed Our Präsident“ und 63 Gründen für Verschwörungstheorien den Bodensatz markiert, schwebt der Historiker Robert Dallek weit über dem Gesocks. Er ist Meister in einem Fach, das es nur in Amerika geben kann: „presidential history“.

Von Lincoln und McKinley zu Kennedy und – in mehreren gefeierten Bänden, noch unvollendet – Lyndon Johnson reichen seine Studienobjekte. Zum Kennedy-Gedenken hat sich Dallek in „Camelot’s Court“, den Hofstaat um JFK vorgenommen. Außenminister Dean Rusk, Verteidigungsminister Robert McNamara, Sicherheitsberater McGeorge Bundy konnten alle Kennedys Vater sein. Laut Dallek berieten sie ihn oft altväterlich und noch häufiger falsch.

Bis zum Atomkrieg drängten manche den Präsidenten. „Hysterie war die akzeptierte Haltung gegenüber kommunistischen Gefahren“, schreibt Dallek. JFK habe aus dem Desaster der Invasion in der kubanischen Schweinebucht gelernt, Experten nicht zu trauen, glaubt der Autor. Nur sein Bruder Bobby, Justizminister, war über Zweifel des Präsidenten erhaben. Robert Dallek erhebt gegen diese Wahl wenig Einwände.

Die seriöse Geschichtsschreibung macht vor Kennedy kein Höflings-Knickse. Nicht wenige Historiker meinen, JFK sei ein schwacher Präsident gewesen: Nicht mutig wie Lyndon Johnson, der die Schwarzen hundert Jahre nach Lincoln abermals und ein Stück mehr befreite. Nicht kühn wie Richard Nixon, der sich nach China wagte. JFK tauge zur Popikone, zum Frauenhelden und zum morbiden Kitsch, bewahrt vor der Bedeutungslosigkeit durch seinen Tod. Die meisten in der neuen Hundertschaft von Büchern über JFK brächten, wie Joe Mysak in „Bloomberg News“ böse schrieb, nicht mehr zustande als „Attentats-Pornografie“.

Der Schlüssel zu allem, was folgte

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Auf diesen Begriff brachte Mysak das Buch des Politikwissenschaftlers Larry Sabato: „The Kennedy Half-Century“ versucht, das ausstrahlende Erbe JFKs über die Brüder Bobby und Ted bis zu der Präsidenten-Tochter Caroline weiterzuverfolgen. Fast alle Bewerber um das höchste Staatsamt, schreibt Sabato, hätten versucht, sich in Kennedys Sonne zu wärmen: Bill Clinton, der mit seinem Handschlags-Foto mit dem Präsidenten als Mitglied einer Jugenddelegation hausieren ging, als sei er damals zum Nachfolger gesalbt worden. Barack Obama, der seine Konkurrentin Hillary Clinton erst hinter sich ließ, als Ted und Caroline Kennedy ihn politisch adoptierten. Doch ist das Attentat tatsächlich, wie Sabato argumentiert, „der Schlüssel, um sowohl den früheren wie den zukünftigen Weg Amerikas zu verstehen?“

Autoren und Rezensenten sparen nicht mit Superlativen der nationalen Lebenserschütterung, wenn sie sich an den unheilvollen 22. November 1963 erinnern. Konfusion und Panik habe die Nation ergriffen, wie nach Pearl Harbor, Nagasaki, „9/11“ – das schreckliche „Gefühl, dass alles geschehen könne“, wie die Webzeitung „Politico“ schrieb.

Vielleicht kann wirklich nur ein Zeitgenosse, der den Mord Kennedys als Erwachsener bewusst miterlebte, ermessen, was nachträglich behauptete und was erlebte Erschütterung war. Jede Generation scheint den Mythos JFK neu zu entdecken. Es ist wie mit den Beatles: Unberührbar über allen anderen, weil die Band so viel hinterließ, bevor sie viel zu früh starb.

John Fitzgerald Kennedy, geboren am 29. Mai 1917, könnte, wenn Jeff Greenfields Spekulation wahr würde, noch hochbetagt leben. Sein Mythos wäre womöglich am politischen Abrieb geschrumpft. Aber mit Kennedys unerfüllten Verheißungen lassen sich noch viele Jahrestage (2017!) bestreiten.

„Er hat tapfer gekämpft“

Thurston Clark hat das in „JFK’s Last Hundred Days“ versucht: „Die Wandlung eines Mannes und das Werden eines großen Präsidenten“ hat sich nach Überzeugung Clarks nach dem Tod des neugeborenen Sohns Patrick vollzogen. Das lungenkranke Kind starb am 9. August 1963: „Er hat tapfer gekämpft“, sagte der trauernde Präsident in der Nacht, „er war ein wunderschönes Baby.“

Der Verlust habe den Präsidenten und die First Lady näher zusammengebracht als in Jahren zuvor; JFK hörte auf mit den reflexartigen Affären. Und er habe, so Clark, in seinen letzten Monaten noch mitleidige Pläne für Amerikas Schwache, Unterdrückte und Arme gemacht. Mindestens zwei weitere Bücher verfolgen dieselbe Spur: „These Few Precious Days“ von Christopher Anderson und Steven Livingstons „The Kenneds Baby“. Ein Kindstod und 39 Stunden kurzes Leben transformierte die 1000-Tage-Präsidentschaft.

„Das Attentat auf John Fitzgerald Kennedy war eine grausame und schockierende Gewalttat, gerichtet gegen einen Mann, eine Familie, eine Nation und gegen die ganze Menschheit.“ So beginnt der Report der Warren-Kommission, die den Mord untersuchte und zu dem Schluss kam, dass Lee Harvey Oswald der einzige Todesschütze gewesen sei. „A Cruel and Shocking Act“ nennt Philip Shenon also seine Untersuchung der Untersuchung. Er ist nicht gnädig in seinem Urteil.

Bizarrer Wettstreit der Marktschreierei

Die Kommission sei „von Anfang an beeinträchtigt“ gewesen von politischer Manipulation und Eifersüchtelei, Vernichtung von Beweisen, Geld- und Personalnot und der Irreführung durch Geheimdienste und das FBI. Von der Autopsie des Leichnams bis zum passiven Widerstand „sklerotischer Bürokraten“ (im FBI) liest sich Shenon wie eine unfassbare Liste von Fehlern, Versäumnissen, Schlampereien – zu einem anderen Befund über den Täter als die Kommission lässt sich Philip Shenon trotz allem nicht hinreißen.

Man muss die Zähigkeit der besten JFK-Autoren bewundern. Man mag die Dreistigkeit und Schamlosigkeit der Fledderer amüsant finden. In den Buchtiteln und Untertiteln erklingt ein bizarrer Wettstreit der Marktschreierei. So etwa, wenn sich Ärzte des Parkland Hospital zu Dallas in einem Buch an ihre Rolle am 22. November 1963 erinnern: „We Were There“. Neben denen, die dabei waren, liegt auf den Wühltischen „Where Were you?“, das Buch zur NBC-Dokumentation. „Wo warst Du (an dem Tag, als Kennedy erschossen wurde)?“ war jahrzehntelang Erinnerungsparole der Generationen. Der 11. September 2001 ersetzte das Datum, nicht die Frage.

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